Ein stürmischer Prämienherbst

Die steigenden Krankenkassenprämien prägten im Vorfeld der Wahlen die öffentliche Diskussion. Dabei zeigte sich einmal mehr: Schuldzuweisungen und emotionale Kontroversen zwischen den Akteuren verhindern den Blick aufs Ganze.

Im Wahljahr 2023 war der Prämienherbst besonders stürmisch. Bereits im Spätsommer kündigten die Krankenkassen einen grösseren Prämienschub an – es ist der zweite in Folge nach 2022. Darauf überschlugen sich die Politikerinnen und Politiker mit Ideen, wie das Gesundheitssystem zu retten ist: von der Abschaffung des Krankenkassenobligatoriums über einkommensabhängige Prämien bis hin zu einer staatlichen Einheitskasse.

Wo entstehen die Kosten?
Um etwas gegen steigende Prämien unternehmen zu können, müsste man zuerst wissen, was diesen Anstieg verursacht. Für wachsende Kosten werden viele Gründe genannt. Auf den offensichtlichsten Grund, dass eine älter werdende Bevölkerung eine immer leistungsfähigere Gesundheitsversorgung in Anspruch nimmt, wird aber selten verwiesen.

Verantwortlich ist je nach dem, wen man fragt, immer ein anderer Akteur. Laut den Krankenkassen treiben die Medikamente die Gesundheitskosten in die Höhe. Man zahle den Herstellern zu hohe Preise. Der Verband der forschenden Pharmaunternehmen Interpharma sieht das Problem in der überbordenden Regulierung von Seiten des Bundes. Diese verursache administrativen Mehraufwand und binde bei allen Akteuren wertvolle Ressourcen. Sinnbild dafür: Der Textumfang des KVG hat sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. Das Bundesamt für Gesundheit will Kosten sparen, indem die Zulassung von Ärztinnen und Ärzten beschränkt wird. Diese wiederum orten ein viel grösseres Problem im zunehmenden Zeit- und Kostendruck bei wachsender Bevölkerungszahl sowie in der ausufernden Bürokratie.

Keine Prämienexplosion
Solche Schuldzuweisungen verhindern den Blick aufs Ganze. Dabei zeigt sich nämlich: Die Prämien steigen deutlich stärker als die Gesundheitskosten. Die Gesundheitskosten sind seit 1996 um 82 Prozent gestiegen, die Prämien aber um 146 Prozent. Dies passiert, weil wir immer mehr Leistungen aus Prämiengeldern bezahlen. Und diese Entwicklung könnte sich zukünftig weiter verstärken, weil immer mehr Behandlungen vom stationären in den ambulanten Bereich verschoben werden. Ambulante Leistungen werden vollumfänglich über die Krankenkassenprämien finanziert. An den Kosten für stationäre Leistungen hingegen beteiligen sich auch die Kantone. Würde die Politik endlich die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) umsetzen, hätte dies einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der Krankenkassenprämie.

Ein guter Teil der emotionalen Diskussionen in diesem Prämienherbst war dem Wahlkampf geschuldet. Dabei vergessen die Politikerinnen und Politiker zu erwähnen, dass die Belastung der Haushalte durch die Krankenkassenprämien relativ stabil ist. Zahlen des Bundesamts für Statistik verdeutlichen dies: In einem durchschnittlichen Haushalt stiegen die Prämien für die Grundversicherung von 2000 bis 2020 um 300 Franken im Monat, mehr oder weniger linear, und nicht exponentiell. Von einer Prämienexplosion seit Einführung des KVG kann deshalb keine Rede sein. Die Bruttohaushaltseinkommen stiegen dagegen um 1360 Franken.

Kantone ziehen sich aus der Verantwortung
Das bedeutet nicht, dass die steigenden Prämien kein Problem darstellen. Für Menschen mit tiefen Einkommen ist jeder zusätzliche Franken einer zu viel. Genau für sie wurde aber zusammen mit der Grundversicherung das Instrument der Prämienverbilligung eingeführt. Die Idee: Jene Kantone, die ein dichtes, teures Spitalnetz unterhalten, sollen die Einwohnerinnen und Einwohner mit niedrigen Einkommen finanziell entlasten. Die Prämienverbilligung wäre also eigentlich ein Anreiz für jeden Kanton, sein Gesundheitssystem effizient zu gestalten und Überkapazitäten abzubauen. Dieser Hebel funktioniert jedoch nur, wenn die Kantone diese Verantwortung auch wahrnehmen. Gemäss einer Auswertung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes hätten im vergangenen Jahr 21 Kantone den Versicherten mehr Mittel zur Verfügung stellen können. Zehn Kantone haben 2022 sogar weniger Geld an die Versicherten ausbezahlt als noch im Jahr 2012. Wo in der Schweiz unzumutbare Belastungen entstehen, sind sie in erster Linie einem Versagen der kantonalen Prämienverbilligungspolitik geschuldet: Ein und dasselbe Paar kann je nach Kanton zwischen 4 und 21 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Krankenkassenprämien bezahlen.

TARDOC bremst das Kostenwachstum
Die steigenden Gesundheitskosten wurden als Wahlkampfthema ausgeschlachtet. Dabei liegt eine mögliche Lösung schon lange vor: Die Einführung des ambulanten Tarifs TARDOC, der den Tarif TARMED ersetzt. Letzterer bildet 20 Jahre alte Positionen ab. Die Umstellung könnte gemäss einer Analyse des Krankenkassenverbands Curafutura dazu beitragen, das Kostenwachstum zu bremsen. Denn der Tarifwechsel muss, so die Forderung des Bundes, kostenneutral sein. Das bedeutet: Steigen die über den ambulanten Tarif abgerechneten Leistungen über das vereinbarte Mass hinaus, werden Korrekturmassnahmen ausgelöst.

Umso mehr erstaunt die Hinhaltetaktik des Bundesrats in dieser Sache: Seit der ersten Einreichung des revidierten Tarifs TARDOC im Juli 2019 verlangte das BAG immer neue Überarbeitungen. Die Verbände FMH und Curafutura kamen allen Forderungen nach. Nun ist zu befürchten, dass das Geschäft durch den Wechsel an der Departementspitze erneut verzögert wird.

Bildlegende

Wie viel darf Gesundheit kosten? Und wie regeln wir die Finanzierung des Gesundheitssystems?

Die Monate vor den eidgenössischen Wahlen waren von der Diskussion über die Krankenkassenprämien geprägt. Bild: Keystone

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