Der Röstigraben wird tiefer
Gemäss einer aktuellen Umfrage schätzen die Menschen in der Romandie die Qualität des Schweizer Gesundheitswesens deutlich schlechter ein als in der deutschen und in der italienischen Schweiz. Eine mögliche Erklärung für diesen Umstand sind die höheren Krankenkassenprämien in der Westschweiz.
Bei Gesundheitsfragen wird der Röstigraben tiefer. Darauf deutet der aktuelle Gesundheitsmonitor hin, eine repräsentative Befragung, die regelmässig von GFS Bern im Auftrag von Interpharma durchgeführt wird. Die Zahlen erstaunen. Weniger als die Hälfte der befragten Romands (46%) stufen die Qualität des Gesundheitswesens als gut oder sehr gut ein; in der Deutschschweiz sind es dagegen 83 Prozent, in der italienischen Schweiz 76 Prozent. Weiter befürworten die Westschweizer die Forderung nach mehr Marktwirtschaft im Gesundheitswesen und Massnahmen zur Kostensenkung stärker als der Rest der Schweiz.
Bisher standen die politischen Vorzeichen eher umgekehrt: Bei nationalen Abstimmungen entschieden die Romands fast immer weniger liberal als die Deutschschweiz und das Tessin. Egal ob Sozial-, Wirtschafts- oder Gesundheitspolitik: Sie wünschen sich mehr Staat. Das liberale Denken, das die individuelle Verantwortung sowohl für sich selbst als auch für die Gesellschaft ins Zentrum rückt, ist weniger verankert. Folgerichtig sind beispielsweise die Steuern in den Westschweizer Kantonen fast durchwegs höher als in der Deutschschweiz.
Ruf nach mehr Markt und Leistungskürzungen
In eine andere Richtung deutet nun der Gesundheitsmonitor 2024: Die Romands wünschen sich ein Gesundheitswesen, das durch die Kantone gestaltet wird, marktwirtschaftliche Züge hat und vor allem hohe Risiken deckt. Um die Kosten zu senken, würden die Romands bestimmte Massnahmen zur Kostensenkung in Kauf nehmen, etwa eine Kürzung des Leistungskatalogs oder einen eingeschränkten Zugang zu Medikamenten. In der Deutschschweiz geht die Wunschvorstellung jeweils in die andere Richtung: mehr Kompetenzen für den Bund, mehr staatliche Regulierung und die Abdeckung sämtlicher Leistungen.
Kritischer Blick auf die Leistungen
Wie sind diese Ergebnisse mit dem bisher vorherrschenden Bild der «linken und staatsgläubigen Romands» in Übereinstimmung zu bringen? Wir haben nachgefragt bei Urs Bieri, Co-Leiter des Forschungsinstituts GFS Bern.
Er vermutet, dass die Kostenproblematik in der Romandie anders wahrgenommen wird als in der Deutschschweiz. Die Kosten und damit die Krankenkassenprämien seien zwar auch in der Deutschschweiz hoch. Aber die Deutschschweizer Bevölkerung empfinde die Gesundheitsleistungen als qualitativ sehr hochwertig. Deshalb werden die hohen Prämien in ihrer Wahrnehmung kompensiert.
Diese Balance scheine in der Westschweiz unter Druck zu kommen, meint der Experte. In der öffentlichen Diskussion stünden die Gesundheitskosten offenbar immer stärker im Fokus – angesichts der teilweise enorm hohen Krankenkassenprämien in dieser Landesregion erstaunt das nicht. So wurde etwa während den letzten Wahlen sowie bei den Abstimmungen zu den Renteninitiativen und den Gesundheitsinitiativen intensiv über die Belastung der individuellen Haushaltsbudgets diskutiert. Vor allem in der Westschweiz war dies der Fall.
Im Zuge dieser Kostendiskussion wird der Blick auf die Leistungsseite in der französischsprachigen Schweiz kritischer. Man sucht nach neuen Lösungen – daher kommt vielleicht auch der Ruf nach mehr Marktwirtschaft. Mit den bisherigen Ansätzen gelingt es ja offenbar nicht, die Kosten zu senken. Die Westschweiz beginnt sogar darüber nachzudenken, ob man Leistungen kürzen könnte. Das ist laut Urs Bieri sehr bemerkenswert. Denn in der Deutschschweiz gebe es diese Diskussion so nicht – oder vielleicht noch nicht.
Prägt die Kostendiskussion politische Entscheidungen?
Was bedeutet dies für die gesundheitspolitische Entwicklung? Es ist durchaus möglich, dass die Kostendiskussion in der Westschweiz weiterhin prägend ist, das Problem der hohen Prämien bleibt ja voraussichtlich unverändert. Dann wird es spannend zu beobachten, wie die Westschweiz bei kommenden Gesundheitsfragen abstimmen wird; beispielsweise falls die Frage nach einer Einheitskasse erneut an die Urne kommen sollte.