Neue Rezepte für das Gesundheitswesen
Notfallstationen sind überfüllt, Spitäler sperren Betten, Hausarztpraxen nehmen keine neuen Patienten mehr auf: Politik und Behörden können die medizinische Versorgung nicht mehr überall sicherstellen. Die Fokussierung auf die Kosten hilft nicht, dieses Problem zu lösen. Neue Rezepte sind gefragt.
Das Schweizer Gesundheitswesen ächzt unter dem aktuellen Fachkräftemangel. Während der Coronapandemie wurde einer breiten Öffentlichkeit erstmals bewusst, dass hier längerfristig ein Problem besteht. Mittlerweile betrifft die Personalknappheit mehrere medizinische Fachdisziplinen, vor allem Haus- und Kinderärzte sowie Psychiater, aber auch weitere Gesundheits- und Pflegeberufe.
Die Kantone können in nächster Zeit die medizinische Versorgung nicht mehr in allen Fachdisziplinen sicherstellen. Allein im Kanton Bern bräuchte es bis ins Jahr 2025 270 neue Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung, um die aktuelle Versorgungsdichte beibehalten zu können (Workforce-Studie Kanton Bern 2020-2025) – effektiv ausgebildet werden weit weniger. Dennoch diskutierten Politikerinnen und Politiker während des vergangenen Jahres lieber über die angebliche Kostenexplosion und Zulassungsbeschränkungen. Der Versorgungsmangel ist kaum ein Thema.
Mehr zufriedene Ärztinnen und Ärzte
Um den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen, muss die Schweiz wieder mehr Ärztinnen und Ärzte ausbilden. Jahrzehntelang wurde bei der Ausbildung gespart; jetzt, wo die Babyboomer-Generation in Pension geht, folgt die Quittung. Aber es braucht nicht nur mehr, sondern auch mehr zufriedene Ärztinnen und Ärzte. Rund zehn Prozent der ausgebildeten Mediziner verlassen den Beruf frühzeitig. Dies zeigen aktuelle Zahlen des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO).
Einerseits müssen sich die Arbeitgeber bewegen: Die jüngere Generation legt Wert auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sie bevorzugt flachere Hierarchien und erwartet planbare Arbeitszeiten sowie genug Zeit für die berufliche Weiterbildung. Das Lebens- und Arbeitsideal des letzten Jahrhunderts mit 80-Stunden-Wochen und ähnlichen Anachronismen finden junge Ärztinnen und Ärzte nicht mehr erstrebenswert.
Andererseits ist auch die Politik gefordert. In den letzten Jahren wurden im Gesundheitswesen so viele neue Gesetze erlassen wie nie zuvor. Die Regulierung nimmt laufend zu. Dies verbessert die Qualität der Medizin aber nicht, im Gegenteil: Spitalärztinnen und -ärzte der Akutsomatik verbringen heute rund 17 Stunden pro Woche allein mit den zeitraubendsten administrativen Tätigkeiten – über zwei Stunden mehr als 2013. Dies besagt eine repräsentative Befragung der Ärzteschaft im Auftrag der FMH aus dem Jahr 2022. In der Grundversorgung sieht es nicht besser aus: Gemäss einem Bericht des Obsan sahen im Jahr 2019 68 Prozent der Grundversorger den Zeitaufwand für Versicherungen und Abrechnungen als Problem an. Die Zeit, die sie mit den Patienten verbringen, wird dafür weniger. Dies und die verzögerte Einführung des ambulanten Tarifs TARDOC gehören zu den wichtigsten Kritikpunkten der ärztlichen Berufsverbände.
Kantönligeist überwinden
Die Strukturen des Gesundheitswesens müssen neu gedacht werden. Die Schweiz leistet sich ein sehr engmaschiges Netz an Regionalspitälern. Die Spitalplanung sollte sich jedoch auf grössere, überkantonale Gesundheitsräume fokussieren und den Kantönligeist überwinden.
Neue Strukturen sind auch in der Grundversorgung nötig: Es braucht vermehrt hausarztgestützte Notfall-Praxen für nicht lebensbedrohliche Fälle. Dies würde die Notfallstationen der Spitäler entlasten, so dass sie wieder ihren eigentlichen Auftrag erfüllen können. Die Kantone können solche Angebote unterstützen, indem sie entsprechende Voraussetzungen schaffen, die Partner zusammenbringen und bei der Anschubfinanzierung helfen.
Den Menschen im Gesundheitswesen zuhören
Eine nachhaltige Gesundheitspolitik konzentriert sich nicht einzig auf die Dämpfung des Kostenwachstums. Sondern sie fördert auch eine den Umständen angepasste Grund- und Spitalversorgung, die optimale Nutzung der personellen Ressourcen und eine sinnvolle Prävention. Die Politik hat es in der Hand. Sie kann die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize setzen, um Innovationen zuzulassen und das Gesundheitswesen ohne grössere Versorgungslücken in die Zukunft zu führen. Dazu braucht es aber Mut und den politischen Willen zur Veränderung. Vor allem braucht es die Bereitschaft der Politik, den Menschen im Gesundheitswesen zuzuhören, wenn politische Ideen auf grossen Gegenwind stossen. Diese dann gegen den Willen der direkt Betroffenen durchdrücken zu wollen, kostet wertvolle Zeit, in der sinnvolle Reformen angepackt werden könnten.