Gefährdet kurzsichtige Politik die medizinische Versorgung?

Jahrelang hat die Schweiz zu wenig Haus- und Fachärzte ausgebildet. Stattdessen wurde immer mehr Personal aus dem Ausland rekrutiert. Der internationale Fachkräftemangel und die aktuellen Zulassungsbeschränkungen erschweren nun aber den Zuzug ausländischer Ärzte.

Künftig werden Patientinnen und Patienten wohl nicht mehr in allen Gebieten der Schweiz so umfassend behandelt werden wie bisher. Wie angespannt die Situation ist, zeigt beispielhaft die Berner Work-Force Studie 2020–2025 des Berner Instituts für Hausarztmedizin BIHAM: In manchen Regionen des Kantons Bern gibt es deutlich zu wenig Grundversorgerinnen und Grundversorger. In mehr als der Hälfte der Praxen gilt ein Aufnahmestopp für neue Patienten. Auch in der übrigen Schweiz sieht es nicht besser aus: Gemäss einer Befragung der Ärztegesellschaft des Kantons Waadt beispielsweise nimmt auch hier nur noch jede zweite Hausarztpraxis neue Patienten auf. In der ganzen Schweiz fehlen zudem für gewisse Spezialisierungen Fachärztinnen und Fachärzte, vor allem in der Psychiatrie und in der Pädiatrie.

Kleinere Pensen, mehr Pensionierungen
Die Schweiz hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Wie kommt es, dass uns nun die Grundversorger und manche Fachärzte ausgehen? Der Ärztemangel hat mehrere Gründe. Jahrelang hat man die Ausbildung von genügend Ärzten vernachlässigt. Gleichzeitig werden in den nächsten 15 Jahren viele Ärzte in Pension gehen – das Durchschnittsalter liegt zurzeit bei 50 Jahren. Man müsste also mehr Mediziner ausbilden, um künftig gleichviele Patienten betreuen zu können. Doch die Bevölkerung wächst: Seit 1990 stieg die Einwohnerzahl der Schweiz von 6,8 Millionen auf 8,7 Millionen, das entspricht einem Wachstum von rund 28 Prozent. Hinzu kommt: Bis zur Jahrtausendwende arbeiteten quasi alle Ärzte in einem Vollpensum. Heute arbeiten Frauen und Männer häufiger Teilzeit, weil sie auch Familienarbeit übernehmen.

«Anfragen von verzweifelten Patienten»
Wie die Ärztinnen und Ärzte die zunehmend schwierigere Versorgungssituation erleben, schildert Cornelia Meier, Co-Präsidentin der Solothurner Ärztegesellschaft. Sie arbeitet als Hausärztin in einer Grundversorgerpraxis mit zwei Kollegen. «Täglich erhalten wir Anfragen von verzweifelten Patienten, die vergeblich einen Hausarzt, einen Kinderarzt oder einen Gynäkologen suchen. In Institutionen wie Alters- und Pflegeheimen klagen die Leitungen vermehrt über nicht zeitgerechte Arztkontakte in Notfallsituationen. Das führt teilweise zu unnötigen Spitaleinweisungen.»
Auch die Mitarbeitenden in der Praxis von Cornelia Meier stehen unter Druck: «Es finden mehr Konsultationen pro Tag statt, die Anzahl der Anfragen ist kaum mehr zu bewältigen. Aktuell übernimmt pro Tag eine medizinische Praxisassistentin ausschliesslich den Telefondienst und berät 100 bis 130 Anrufer.»
Im Kanton Solothurn hätten die Erstkontakte in den Praxen seit 2021 um ganze 16 Prozent zugenommen, erzählt Cornelia Meier. «Das bedeutet nicht etwa eine Mengenausweitung seitens der Ärzteschaft. Wären die Praxen darauf aus, mehr Leistungen zu generieren, wären auch die Folgekonsultationen gestiegen. Das ist aber nicht der Fall.»

Die Politik hat den Blick aufs Ganze verloren
Für Cornelia Meier ist klar: «Diese Versorgungsengpässe sind nicht von gestern auf heute entstanden. Meines Erachtens ist den Politikerinnen und Politikern der Blick aufs Ganze abhandengekommen.» Noch nie sei in Bundesbern betreffend Gesundheitswesen so viel legiferiert und debattiert worden. Dennoch würden die wichtigsten Instrumente zu sinnvollen Anpassungen nicht angepackt: Die rasche Einführung des neuen Tarifs TARDOC und die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS). Mit den aktuell diskutierten Kostendämpfungsmassnahmen riskiere man stattdessen bei einer überalterten und müden Ärzteschaft zusätzliche Versorgungsengpässe hervorzurufen, nicht zuletzt durch vorzeitige Pensionierungen, erklärt Cornelia Meier. «Wir Ärztinnen und Ärzte müssen uns auf immer neue Vorgaben und administrative Hürden einlassen. Die Zeit mit den Patientinnen und Patienten wird hingegen kürzer. Müde sind viele auch hinsichtlich der aussichtslosen Suche nach einem Nachfolger.»

Kurzsichtige Kostendämpfungstaktik
Politikerinnen und Politiker sind sich oft nicht bewusst, dass sowohl die Grundversorgung als auch die Versorgung in einigen weiteren Fachbereichen künftig nicht mehr überall gewährleistet ist. Angesichts der aktuellen Situation sind aber politische Lösungen gefragt – nicht nur in Sachen TARDOC und EFAS: «Wir werden nicht um Ausbildungsoffensiven herumkommen», glaubt Cornelia Meier. «Gleichzeitig werden die Gemeindebehörden in Gegenden ohne Hausarztpraxen junge Ärztinnen und Ärzte bei der Praxisgründung unterstützen oder ein attraktives Umfeld für sie schaffen müssen. Jedenfalls solange die Politik mit einer wahlwirksamen, aber kurzsichtigen Kostendämpfungstaktik das Gesundheitswesen demontiert.»

Bildlegende

Jahrelang hat die Schweiz die Ausbildung von genügend Ärzten vernachlässigt. Jetzt drohen Versorgungsengpässe.

Scroll to top icon