Die Versorgung ist in Gefahr
In der Schweiz fehlen rund tausend Medikamente, die regelmässig verschrieben werden. Das gefährdet die Patientenversorgung. Einer der Gründe: Jeder Kanton muss einzeln mit der EU oder mit anderen Staaten über die Versorgung mit Medikamenten verhandeln. Weil die Politik zu langsam agiert, werden Apotheker, Ärzte und andere Berufsgruppen nun selbst aktiv.
In der Schweiz fehlen zurzeit etwa tausend Medikamente: vom gewöhnlichen Hustensirup bis zu speziellen Präparaten, die nur wenige Menschen in der Schweiz benötigen. Laut Angaben des Schweizerischen Apothekerverbands Pharmasuisse muss bei ungefähr jedem dritten Rezept ein alternatives Medikament organisiert werden. Den Aufwand dafür tragen vor allem Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheken. Auch andere Stellen berichten, dass medizinische Güter teilweise fehlen oder mit viel Aufwand über neue Kanäle beschafft werden müssen, beispielsweise Material für medizinische Labors.
Die Versorgungssicherheit stärken
Eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Bund, Kantonen, Pharmaindustrie und Forschung prüft mögliche Massnahmen gegen den Medikamentenmangel. Allerdings sind die Ergebnisse erst 2024 zu erwarten, und dies, obwohl das Problem schon seit langem bekannt ist. Deshalb werden die betroffenen Berufsgruppen nun selbst aktiv: 16 Verbände, Organisationen und Unternehmen des Schweizer Gesundheitswesens unterstützen eine Initiative, die die medizinische Versorgungssicherheit stärken will. Im Komitee vertreten sind unter anderem Apotheker, Ärzte, Drogisten, Labormediziner sowie die Pharmaindustrie und -logistik.
Mehr Kompetenzen für den Bund gefordert
Bisher überliess der Bund die Medikamentenversorgung der Wirtschaft. Gemäss Verfassung greift er nur bei einer schweren Mangellage ein. Die Initiative fordert nun, dass die Kompetenzen für wichtige Heilmittel und medizinische Güter beim Bund liegen, statt wie bisher bei den Kantonen. In vielen europäischen Ländern ist die nationale Arzneimittelbehörde das zentrale Organ, das die Verantwortung für die Versorgung trägt. In der Schweiz fehlt eine solche Instanz. Demnach muss jeder Kanton einzeln mit der EU oder mit anderen Staaten über die Versorgung mit Medikamenten verhandeln.
Ein grosses Problem sind die Lieferketten. Bei der Beschaffung der Inhaltsstoffe, der Zusatzstoffe und der Verpackungsmaterialien ist die Schweiz abhängig von Ländern wie China und Indien. Wenn einer der Hersteller nicht liefern kann oder will – aus welchem Grund auch immer –, kann das Medikament nicht produziert werden. Nun ist eine vollständige Produktionskette innerhalb der Schweiz für alle Grundversorgerprodukte ökonomisch natürlich nicht realisierbar. Deshalb brauche die Schweiz künftig auch robuste Verträge und eine enge Zusammenarbeit mit ausländischen Herstellern, so die Initianten.
In der Schweiz Generika zu produzieren, lohnt sich nicht
Ein bedeutender Grund für die Mangelsituation bei häufig verwendeten Medikamenten ist der politische Preisdruck des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Um die Kosten zu senken, verordnete das BAG in den letzten Jahren deutliche Preissenkungen bei den Generika – das sind kostengünstige Nachahmerprodukte, die nach Ablauf des Patentschutzes des Originalmedikamentes produziert werden dürfen. Die Preise sind mittlerweile so tief, dass sich die Herstellung von Generika in der Schweiz kaum mehr lohnt. Die Kostendämpfung gefährdet hier also die Versorgungssicherheit. Das ist sicher nicht im Interesse der Prämienzahler und der Stimmbürger.
Der politische Weg ist langsam
Die Unterschriftensammlung für die Volksinitiative «Ja zur medizinischen Versorgungssicherheit» läuft seit Anfang April. Sie könnte gute Chancen haben. Das eindeutige Abstimmungsergebnis zur Pflegeinitiative im Jahr 2021 zeigt: Anliegen zur Gesundheitsversorgung stossen in der Bevölkerung auf viel Verständnis. Die Pflegeinitiative zeigt aber auch, dass die Versorgungsprobleme trotz einem Ja an der Urne noch lange nicht gelöst sind. Denn bis die Forderungen auf politischer Ebene umgesetzt werden, dauert es Jahre.