Die Mühlen der Schweizer Politik mahlen zu langsam… und in der Zwischenzeit gehen uns die Ärzte aus
Ständig steigende Kosten im Gesundheitswesen und die damit einhergehende Erhöhung der Krankenkassenprämien sind Themen, die bereits seit Jahren nicht nur die Schweizer Politik beunruhigen und beschäftigen. Die öffentlichen Ankündigungen und Absichtserklärungen müssen in der Bundesversammlung in entsprechende Entscheidungen umgesetzt und diese dann häufig auch noch vom Volk bestätigt werden. Unser föderalistisches System, in dem 26 Kantone unter Berücksichtigung ihrer regionalen Bedürfnisse und Rahmenbedingungen zur Anwendung des KVG angehalten sind, macht radikale und einschneidende Entscheidungen sehr schwierig. Die Suche nach Kompromissen, die letztendlich auch nicht bei allen auf Zustimmung stossen, ist einfach zu zeitaufwändig und geht zulasten von Bürgern, Versicherten, Patienten und Steuerzahlern. Und in der Zwischenzeit gehen uns die Ärzte aus…
Seit knapp zehn Jahren fordern Leistungserbringer und Krankenversicherer eine vollständige Überarbeitung des 2004 in Kraft getretenen TARMED, da dieses Tarifsystem von allen als mittlerweile veraltet erachtet wird. Auf Anraten von Bundesrat Alain Berset hat der Gesamtbundesrat den Vorschlag für das neue TARDOC-Tarifsystem für ambulante medizinische Leistungen mehrfach abgelehnt. Wir hoffen, dass das TARDOC-System am 1. Januar 2025 endlich in Kraft tritt und dann durch ambulante Pauschalen ergänzt wird. Die neu gegründete Tariforganisation (Organisation für ambulante Arzttarife OAAT) wird für die Pflege und die Weiterentwicklung der neuen nationalen Tarifstrukturen für ambulante Leistungen zuständig sein.
Die Motion Humbel, mit der 2009 eine einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen vorgeschlagen wurde, ist gut zehn Jahre später vom Nationalrat angenommen worden. Der Bundesrat vertritt jedoch die Meinung, dass eine einheitliche Finanzierung in Zusammenarbeit mit den Kantonen umgesetzt werden sollte, zum Beispiel durch den Einbezug von Langzeitpflegeleistungen. Als Reaktion auf zwei Postulate erklärte der Bundesrat im Jahr 2020, dass dies bis 2025 möglich sein würde. Die Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK argumentiert jedoch dahingehend, dass eine einheitliche Finanzierung im ambulanten und stationären Bereich nur dann zu einer wirklichen Verbesserung führt, wenn auch die Langzeitpflege in das Finanzierungsmodell einbezogen wird. Dies zeigt einmal mehr, wie komplex das System ist und wie schwierig es sich gestaltet, die Zustimmung aller Beteiligten zu erlangen. Wird die Umsetzung unter Umständen vielleicht auch erst 2030 erfolgen?
Und was passiert in der Zwischenzeit?
Die Zahl der Ärzte und des Gesundheitspersonals im Allgemeinen ist stark rückläufig. Hierfür gibt es ganz unterschiedliche Gründe: die Pensionierung älterer Ärzte, schlechte Arbeitsbedingungen aufgrund zunehmender Bürokratie, die Gefahr eines Burnouts aufgrund von Überlastung und ein Einkommen, das im Laufe der Jahre an Attraktivität verloren hat.
Daher ist es nur folgerichtig, auch im Tessin auf eine akademische Ausbildung mit dem neuen Master in Humanmedizin der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) zu setzen und die Zahl der Anmeldungen in Ausbildungsgängen für Krankenpflegepersonal weiter zu erhöhen. Dies sind wichtige Massnahmen, die jedoch die hohe Zahl der Berufsaussteiger nicht kompensieren können.
Glücklicherweise profitiert das Gesundheitswesen im Tessin von Grenzgängern aus dem benachbarten Italien. Aber wie lange noch? Italien ist wie Deutschland dabei, sich so aufzustellen, dass durch verbesserte Arbeitsbedingungen und höhere Löhne und Gehälter die eigenen Arbeitskräfte im Land gehalten werden. Wir haben nach wie vor einen gewissen Vorsprung, aber der schwindet langsam.
Die Mehrheit der Ärzte ist sich ihrer seinerzeit getroffenen berufsethischen Entscheidung für den Schutz und die Förderung der ihnen obliegenden primären Aufgaben sehr wohl bewusst. Seinem Selbstverständnis folgend, ist ein Arzt geneigt, all das zu tun, was er für die Gesundheit und das Wohl des Patienten als zuträglich erachtet. Immer schwieriger gestaltet sich jedoch für Ärzte die Vereinbarkeit ihrer Berufsethik mit der wirtschaftlichen Situation im Hinblick auf Investitionen und Rentabilität. Und auch die politischen Rahmenbedingungen, unter denen weder eine neue Ausrichtung im Umgang mit Fragen der Gesundheitsversorgung möglich ist noch mit aktuellen Entwicklungen und veränderten Patientenbedürfnissen Schritt gehalten werden kann, entsprechen nicht immer den berufsethischen Grundsätzen.
Die Uhr tickt! Wir Ärzte müssen den Politikern erklären, dass es nicht nur um Kosten und Krankenkassenprämien geht. Und wir müssen sie überzeugen, alles daranzusetzen, die seit jeher von Ärzten übernommene soziale Rolle zu erhalten und zu verhindern, dass unser Berufsstand auf das Niveau einer beliebigen Dienstleistung reduziert wird.