Globalbudget: Triage zwischen arm und reich?
In der Schweiz muss heute niemand auf medizinische Behandlungen verzichten. Doch was geschieht, wenn ein Globalbudget im Gesundheitswesen das Angebot bestimmt?
1912 versank der Passagierdampfer Titanic in den eisigen Fluten des Atlantiks. Die Rettungsboote reichten kaum für die Hälfte der Menschen an Bord. Der Anteil der Überlebenden der 1. Klasse lag prozentual doppelt so hoch wie in der 3. Klasse. Der Grund dafür ist einfach: Zugang zu den Rettungsboten erhielten zuerst die 1. Klasse-Passagiere, ergo diejenigen, die mehr für die Überfahrt bezahlt hatten.
Auch im Schweizer Gesundheitswesen kommen diejenigen, die mehr bezahlen können, zuerst an die Reihe. Wer sich eine Zusatzversicherung leisten kann, wartet meist weniger lang auf eine Operation. In der Schweiz muss aber heute niemand aus finanziellen Gründen auf medizinische Behandlungen verzichten. Oder anders gesagt: Es gibt für jeden einen Platz im Rettungsboot. Das könnte sich mit der vom Bundesrat angestrebten Einführung eines Globalbudgets ändern. Denn wenn Bund und Kantone Zielvorgaben zum Kostenwachstum erarbeiten, bestimmen sie de facto auch die Budgets für einzelne Kostenblöcke wie ambulante Leistungen, Spitäler oder Medikamente. Nicht die Nachfrage bestimmt dann das Angebot, sondern der Staat.
Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht
Was passiert, wenn ein Budget für eine bestimmte Behandlung vor Ende des Zeitraums aufgebraucht ist, wissen wir aus Deutschland. Denn unser nördlicher Nachbar kennt bereits seit geraumer Zeit ein Globalbudget für das Gesundheitswesen. Pro Monat darf dort eine hypothetische Arztpraxis beispielsweise 25 Blutentnahmen, 10 Hepatitis-Impfungen und 5 Hausbesuche verrechnen. Den sechsten Hausbesuch nimmt diese Praxis besser nicht vor. Denn wird eine «ungerechtfertigte Kostensteigerung» verzeichnet, fällt für die Praxis eine Strafe an. Was passiert aber mit dem sechsten Patienten, der auf einen Hausbesuch angewiesen wäre? Der muss warten: In Deutschland schliessen manche Praxen über Tage, um das Budget nicht zu überschreiten.
Es liegt auf der Hand, welche Gefahr daraus resultiert: Unterlassene Behandlungen. Je nach Wartezeit kann dies zu Komplikationen oder Verschlimmerung einer Krankheit führen, was nicht nur das Patientenwohl gefährdet, sondern auch die Behandlungskosten verteuern dürfte.
Bestimmt der Arzt, wer die letzte Behandlung im Kontingent erhält?
Es fragt sich, ob Ärztinnen und Ärzte im Globalbudget überhaupt selbst entscheiden dürfen, wer die letzte Behandlung erhält. Möglich wäre durchaus, dass derjenige Vorrang hat, der über weitreichende Zusatzversicherungen verfügt. Denn der Blick über den Rhein zeigt: Das letzte künstliche Hüftgelenk im Jahr erhält tendenziell nicht der Patient mit den grössten Schmerzen, sondern derjenige mit der besten Zusatzversicherung. Die Zielvorgabe führt also zu einer Zweiklassenmedizin. Wer es sich nicht leisten kann, sich privat versichern zu lassen, wird vom System benachteiligt. Befürworter des Globalbudgets werden nun einwenden, dass Zusatzversicherte auch im heutigen System weniger lang auf ihr Hüftgelenk warten müssen. Diese Aussage stimmt zwar, lässt aber ausser Acht, dass bei einer festgelegten Anzahl Behandlungen nicht möglich ist, alle notwendigen Leistungen gegenüber allen Patienten zu erbringen. Und damit kommen wir zurück zur Titanic: Denn wo im heutigen System so viele Rettungsboote da sind wie Patienten, soll zukünftig vorgängig festgelegt werden, wie viele Rettungsboote es gibt. Für wie viele es reichen wird, hängt also davon ab, wie weit sich das ex ante kalkulierte Globalbudget mit der nachmaligen Wirklichkeit deckt. Je schlechter die Kalkulation, desto mehr Patientinnen und Patienten sind betroffen. Dass dies wie in Deutschland nicht die Zusatzversicherten sein dürften, muss angenommen werden; ihnen ist der Platz im Rettungsboot sicher. So bleibt es denn an der «3. Klasse», das Globalbudget und die damit provozierte Zweiklassenmedizin auszubaden.
Übrigens: In Deutschland hat die Ampel-Regierung im November 2021 angekündigt, die Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich aufzuheben. Warum also in der Schweiz einführen, was anderswo wieder abgeschafft wird?