Ende Pandemie. Und was bringt der Herbst?

Experten befürchten im Herbst eine weitere COVID-Welle. Der Bundesrat scheint sich wenig davor zu fürchten – hat er nichts aus seinen Fehlern gelernt?

Blick zurück: September 2020: Der Bundesrat beschliesst weitreichende Lockerungen der COVID-19-Massnahmen. Im Sommer sind die Ansteckungen deutlich zurückgegangen, man ist zuversichtlich, dass das Schlimmste überstanden ist. Die Experten sind anderer Meinung. Anfang Oktober steigen die gemeldeten Fälle rasant, Mitte Oktober kommt der Lockdown, Ende Oktober erreichen die Zahlen einen neuen Höhepunkt.

Ein Jahr später, September 2021: Die meisten Impfwilligen sind inzwischen geimpft. In den umliegenden Ländern wird bereits geboostert, hier ist man zurückhaltend, hat die Kapazitäten der Impf- und Testzentren heruntergefahren. Erneut sind im Sommer die Ansteckungen deutlich zurückgegangen, erneut ist man zuversichtlich, dass das Schlimmste nun überstanden ist. Erneut sind die Experten anderer Meinung – und einige Wochen später beginnen die Zahlen erneut rasant zu steigen.

Sehr viele neue Fälle spätestens im Oktober 2022 erwartet

Sich über die Fehler des Bundesrats im Umgang mit der COVID-19-Pandemie auszulassen, ist müssig. Zu vieles war unbekannt, zu schnell mussten die Entscheide gefällt werden, als dass man Irrtümer hätte vermeiden können. Aber dass aus den Fehlern irgendwann gelernt wird, das darf erwartet werden. Aktuell sieht es nicht danach aus.

Auch im Sommer 2022 ist man zuversichtlich – und leider sind die Experten auch dieses Jahr anderer Meinung. Diesmal fangen die Zahlen schon im Juni wieder an zu steigen. Bereits im März kritisieren der Epidemiologe Marcel Salathé und die Virologin Isabella Eckerle auf Twitter die kurzfristige Corona-Politik. «JETZT muss die Schweiz sich den grossen Fragen dieser Pandemie stellen, vor allem auf den Herbst hin», so Salathé.

Der deutsche «Mr. Corona» Christian Drosten findet noch deutlichere Worte: Er erwartet eine grosse Welle im Herbst, weil der Übertragungsschutz bei den meisten Menschen bis dann wieder verloren sei – erst recht bei den neuen zirkulierenden Varianten. Und weil die Politik wegen des Impferfolgs vom letzten Winter dennoch zunächst weniger kontrollieren werde. Erneut lautet die relativ einhellige Prognose: Wenn nichts ändert, wird es zu sehr vielen Fällen spätestens ab Oktober kommen.

Sinkende Immunität, verzögertes Boostern

Dennoch besteht in der Schweiz bisher nur eine eingeschränkte Empfehlung für eine vierte Impfung, für Personen mit stark geschwächtem Immunsystem und für Personen über 80 Jahre. Das ist nicht überall so: Österreich und Deutschland empfehlen den Risikogruppen die vierte Impfung. Das Zaudern des Bundes kritisiert beispielsweise Lukas Engelberger, Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz; er fürchtet, dass das BAG eine sinkende Immunität zu spät erkennen würde und es dann zu spät sei für die zuständigen Kantone, die Risikogruppen rechtzeitig zu boostern. Das im Juni vom Bundesrat verabschiedete «Grundlagenpapier zu Zielen, Aufgaben und Zuständigkeiten in der Übergangsphase» hilft nicht, diesen Eindruck zu verbessern. Auch hier erlebt man ein ungutes Déjà-vu. Hat der Bundesrat nicht schon zu Beginn der Pandemie viel zu lange gezögert, Verantwortung zu übernehmen? Und nun will er diese Verantwortung grösstenteils wieder abgeben – gegen den massiven Widerstand der Kantone.

Zwar hält der Bundesrat laut seinem Grundlagenpapier «eine erhöhte Wachsamkeit und Reaktionsfähigkeit » bis im Frühling 2023 für nötig. Die Beschlüsse sprechen aber eine andere Sprache: Neu sollen die Kantone ganz grundlegende Aufgaben in der Pandemiebekämpfung übernehmen. Darunter Beschlüsse über eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr – was bei unserem nationalen Zugsystem absurd anmutet. Oder die Organisation der Corona-Tests inklusive der Kosten. Im «Blick» kritisiert Michael Jordi, Generalsekretär der kantonalen Gesundheitsdirektoren-Konferenz (GDK), das Vorhaben scharf. Die Pläne seien für den Sommer in Ordnung, aber man wisse nicht, was im Herbst auf uns zukomme. Der Bundesrat müsse bereit bleiben für schnelle, nationale Entscheidungen: «Er kann nicht erst aktiv werden, wenn es zu spät ist.» Nicht schon wieder, möchte man ergänzen.

Bildlegende

Ist die Maske im Herbst wieder en vogue?

Bild: iStock

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