Staatliches Gesundheitssystem in der Krise
Überfüllte Betten, frustriertes Personal, verzweifelte Patienten: Der britische Gesundheitsdienst NHS befindet sich im 70. Jahr seines Bestehens in einem desolaten Zustand.
Diesen Januar sind in Grossbritannien mehr als 50’000 geplante, nicht lebensnotwendige Operationen verschoben worden, um Betten für schwere Fälle freizuhalten. In Notfallambulatorien warten Patienten bis zu zwölf Stunden auf einen Arzt. Kranke müssen in Rettungswagen, auf Krankentragen, in Fluren ausharren bis sich jemand um sie kümmert. Die gegenwärtige Situation demütigt Patienten und frustriert Ärzte und Pflegende. Dies bleibt nicht ohne Folgen: Dem nationalen Gesundheitsdienst NHS läuft das Personal weg. Laut dem Royal College of Nursing, dem Berufsverband der Pflegefachfrauen, haben 2017 33’000 Personen den Dienst quittiert. 40’000 Stellen sind nach wie vor unbesetzt.
Auch beim ärztlichen Personal verschärft sich der Mangel. Einer Analyse des Imperial College London zufolge braucht der NHS bis 2020 12’000 zusätzliche Hausärztinnen und Hausärzte (General Practitioner). Erschwerend kommt hinzu, dass seit dem Brexit-Referendum Bewerbungen von Ärzten und Pflegenden aus dem EU-Raum markant zurückgegangen sind. Noch schlimmer: Ein Fünftel der europäischen NHS-Ärzte, so das Resultat einer Umfrage, plant gar, Großbritannien zu verlassen. Die Personalkrise wird die prekäre Lage des NHS verschärfen. Die Politik aber redet das Problem klein und verweist auf die ungemein heftige Grippewelle in diesem Jahr. Doch die Schwierigkeiten des NHS liegen tiefer, wie ein Vergleich der Organisation für Wirtschaft und Zusammenarbeit (OECD) deutlich macht: Der NHS beschäftigt weniger Ärzte, weniger Pflegende und stellt weniger Betten bereit als die meisten anderen Gesundheitssysteme reicher Industrieländer. Einzig bei der Effizienz kann der NHS punkten. Briten bezahlen pro Kopf für ihre Gesundheitsversorgung deutlich weniger als Schweizer, Franzosen oder Deutsche.
Finanzierung im Ermessen der Politik
Während die Gesundheitsausgaben in der Schweiz durch Grundversicherung, Selbstzahlungen der privaten Haushalte und Staat getragen werden, erhält der NHS sein Budget aus Steuern. Als integraler Bestandteil des Staatshaushaltes liegt die Finanzierung des NHS im Ermessen der Politik. Und die Politik hat dem NHS in den letzten Jahren Sparkuren und einen weitreichenden Reformkurs auferlegt. Der NHS sollte dezentralisiert werden. Die bisherigen regionalen Versorgungseinheiten (Trusts), welche die Gesundheitsversorgung planten und finanzierten, wurden durch mehrere hundert Clinical Commissioning Groups (CCG) abgelöst. Die Gruppen umfassen Krankenhäuser, Hausärzte und auch private Einrichtungen. Der entscheidende Unterschied: Waren Patienten früher durch den Wohnort einer regionalen Versorgungseinheit zugewiesen, können sie nun ihre Clinical Commissioning Group frei wählen. Dadurch stehen die CCG im Wettbewerb zueinander. Gleichzeitig wurden die CCG verpflichtet, neue Versorgungsmodelle zu entwickeln und ihre Massnahmen zur Qualitätssicherung
zu belegen. Mehr Wahlfreiheit und mehr Wettbewerb sorge für eine bessere Versorgungsqualität und kürzere Wartezeiten, davon waren die Befürworter überzeugt. Diese Hoffnungen bewahrheiteten sich nicht. Die jüngsten Entwicklungen geben den Reformkritikern Recht, die vor Risikoselektion und Unterfinanzierung warnten. Chronisch Kranke, Alte, Arme und Hilflose warten heute monatelang auf Termine. Ihre Ausgaben für Sozialbetreuung und Pflege wurden gesenkt, Pflegestationen, Seniorenheime, Sozialstationen geschlossen. Auch wenn die Regierung dem NHS zuletzt eine zusätzliche Finanzspritze von 337 Millionen Pfund verabreichte, bleibt der Gesundheitsdienst auch in Zeiten der Krise chronisch unterfinanziert. Die NHS-Verantwortlichen fordern zusätzliche Milliarden.
Warnzeichen
Die Gesundheitssysteme der Schweiz und Grossbritanniens weisen auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten auf. So schmerzhaft und einschneidend Erfahrungen, die auf der Insel gemacht werden, sind, sie dienen als Warnzeichen. Globale Budgetplanung, fixe Kostenbremsen, verbindliche Zielvorgaben orientieren sich nicht am medizinischen Behandlungsbedarf. Sie schaden nicht nur dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten, sondern können für beide auch drastische Folgen haben, wie die jüngsten Ereignisse in Grossbritannien belegen.